Gedanken zum sechsjährigen

 

Ich habe mir einmal geschworen, nie wieder in eine Therapie zu gehen. Nie wieder den Gang wegen des Zwangs zum Arzt zu machen. Aber wie heißt es so schön: Sag' niemals nie. Ich dachte ich habe es geschafft; ich bin ihn los –hurra !

Doch ich habe schon wieder etwas dazu lernen müssen: Weg ist er nie – ich kann ihn lediglich kontrollieren. Er lauert in seinem Versteck und wartet nur darauf, dass sich für ihn eine Chance ergibt, und wenn es nicht die eine Chance ist, so nutzt er viele kleine Chancen. Er hat Zeit und Geduld. Er kann warten und lauern.

Doch was ist passiert ? Nun– zunächst will ich niemanden Angst machen, aber da ich diese Seite als einen Erfahrungsbericht ansehe, möchte ich, bzw. muss ich, auch über negative Erfahrungen berichten. Vorweg die gute Nachricht:

Auch wenn alles verloren scheint, es geht immer weiter !  

 

Die Vorgeschichte.

Als alles so richtig gut lief, kam der große Knall. Mir ging es so richtig gut. Der Zwang war in seiner Höhle und gut verschlossen. Doch dann entschied sich mein Chef dafür nicht mehr weiter zu machen. Er gab auf und kündigte alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Firmenaufgabe. So war ich im April 2013 arbeitslos. Nach 33 Jahren war ich zum ersten Mal ohne Arbeit. Und nun ? Na ja vielleicht könnt ihr es euch denken. Nun bin ich „Hartz 4“ und muss erleben, dass du nicht wirklich mehr etwas wert bist. Hört sich sehr polemisch an, aber es ist so, bzw. es wird dir das Gefühl vermittelt. Denn die vielen Jahre, die du „ein nützlichen Mitglied in der Gesellschaft warst“ zählen nicht mehr. Du wirst auch den Eindruck nicht los, wenn du das Jobcenter betrittst, zunächst als Betrüger und fauler Asozialer angesehen wirst. Selbstverständlich bist du das nicht, denn offiziell du bist ja ein „Kunde“. Doch es wird dir schnell klar, wenn deine Familie nicht mehr eine Familie ist, sondern eine Bedarfsgemeinschaft. Der Weg in die soziale Bedeutungslosigkeit geht zwar Schritt für Schritt, aber doch zügig voran. Besonders wenn du dich nach einem Jahr zu dem Heer der Langzeitarbeitslosen zählen „darfst“, und dir vorgehalten wird, dass du ja schon nun sehr lange von Steuergeldern lebst, hilft dir das nicht bei deinem Selbstwert. Wie lange du schon gearbeitest hast und warum du arbeitslos geworden bist, ist in diesem Momentabsolut egal. Es zählt nicht mehr.  

Der Auslöser.

Du lebst ständig am Rande des Wahnsinn, besonders dann, wenn du deinem „Jobvermittler“ immer wieder erklären musst, was du eigentlich für einen Beruf hast und wie der genau funktioniert. Du wirst auf Maßnahmen geschickt, was grundsätzlich erst einmal nicht verkehrt ist. Es gibt durchaus nützliche Maßnahmen, aber die sind leider selten. Die alles entscheidende Maßnahme war die, dass ich zu einem Verkaufstraining geschickt wurde. Ich bin ein gelernter Einzelhandelskaufmann und habe eben 33 Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Zumindest räumte die Leiterin der Maßnahme etwas erstaunt ein, dass ich dann wohl kein Praktikum mehr zu machen bräuchte, und ich ihr wohl mehr über diesen Beruf erzählen könne, als sie mir. Übrigens bestand diese Maßnahme aus genau zwei Teilnehmern. Die junge Frau ist nach rund einer Stunde gegangen, weil sie keine Sinn darin sah. So blieb ich denn da und war damit beschäftigt einen Fragebogen aus zufüllen, für den ich 90 Minuten Zeit bekam, der allerdings nur 10 Minuten benötigte. Es reifte die Erkenntnis, dass ich für diese Maßnahme wohl doch überqualifiziert war. So gab es dann folgenden Entscheidung. Mir wurde ein Platz vor einem PC zugeteilt, an dem ich nun für die Dauer der Maßnahme Bewerbungen schreiben sollte. Die Dauer der Maßnahme war übrigens 8 Stunden am Tag für die nächsten drei Monate .Eine Tätigkeit, die ich in den vergangenen 1 ½  Jahren schon fast jeden Tag von zu Hause aus gemacht habe. Aber man äußerte die Vermutung, dass meine Jobvermittlerin es wohl möchte, dass ich dies verbindlich und unter Aufsicht machen solle. Bestimmt gibt es ein paar Hartz4-Emfänger, die es toll finden nicht zu arbeiten. Allerdings habe ich die in der vergangenen Zeit noch nicht getroffen.

Die deutliche Mehrheit der Hartz4-Emfänger leiden unter ihrem Zustand. Das, in den Medien verbreitete Bild des „klassischen Hartz4-Emfängers“ stimmt nicht, zumindest entspricht es nicht der Realität ! Es sind deutlich mehr qualifizierte Menschen arbeitslos, als es in den Medien vermittelt wird. Ein Fachkräftemangel besteht eigentlich nicht, vielmehr ein Mangel an Fachkräften, die unter 25 Jahren alt ist, über eine Berufserfahrung von mindesten 30 Jahre verfügen und bereit sind für einen „Mindestlohn“ zu arbeiten. Der Grund, warum ich allerdings nicht nach Hause geschickt wurde und die Maßnahme, so sinnlos sie auch erscheint, durchziehen musste, ist ganz einfach. Jeder Hartz4-Emfänger, die zu einer Maßnahme geschickt wird, gilt offiziell nicht als arbeitslos und der  Träger der Maßnahme bekommt für jeden, der zu einer Maßnahme geschickt wird Geld. Im übrigen sind das Steuergelder -  nur so nebenbei !

Leider musste ich so weit ausholen, damit ihr versteht, was mit mir geschehen ist. An diesemTage wurde mir zu ersten Mal klar, in welcher Situation ich mich befinde. Das ich nichts anderes mehr bin, als ein Spielball, der nach belieben über das Spielfeld getreten werden kann. Der keinen freien Willen mehr hat und das zu tun hat, was die Spieler wollen. Egal wie sinnlos es auch sein mag. Ich hatte zu spuren und wenn nicht, dann konnten die Spieler, die Luft heraus lassen, oder mit anderen Worten, mir den Geldhahn abzudrehen. Im Amtsdeutsch heißt es Sanktionen. Das hört sich für die Öffentlichkeit besser an, denn Sanktionen (Strafen) bekommt nur derjenigen, der gegen die Ordnung verstößt. Es ist schon paradox. Hartz4 ist das Existenzminimum, aber von diesem Minimum wird noch etwas abgezogen. Der Staat nimmt also in Kauf, dass jemand, der vom Existenz-minimum leben muss, mit noch weniger auskommen soll (oder auch nicht).

Es machten sich Gefühle in mir breit, die ich schon, wenn ich ehrlich bin, eine ganze Weile unterdrückte. Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, aber auch Wut,Traurigkeit und Angst. Diese Gefühle wurden an diesem Tage übermächtig, und waren mir leider sehr bekannt. Ich wollte diese Gefühle in dieser Intensität nie wieder fühlen. So traf ich eine Entscheidung, die ich eigentlich nie wieder treffen wollte. Ich ging zu meinem Arzt und nach ein paar Wochen, fand ich mich im Wartezimmer eines Psychiaters  wieder. Dies war die Chance, auf die der Zwang geduldig gewartet hatte. Er nutzte sie, doch wusste ich, dass er schon in der Zeit davor, die eine oder andere Möglichkeit nicht ungenutzt hatte. Ich bemerkte dies, aber ich war der Meinung, ich kann das mit meinen Kenntnissen schon wieder schaffen würde. Doch es wuchs mir über den Kopf und ich wusste nicht mehr wo ich ansetzensollte. Irgendwann war es wie „früher“. Der Zwang hatte wieder die absolute Oberhand bekommen.

Nun bin ich wieder in einer ambulanten Therapie. Ich musste mir eingestehen, dass ich „Starthilfe“ brauchte. Es tut gut wieder mit jemanden darüber zu reden, der einen versteht und helfen kann. Zur Zeit bin ich wieder auf einem guten Weg, doch ich hatte vergessen wie anstrengend Übungen sein können. Ich lerne wieder zu akzeptieren, dass der Zwang ein Teil von mir ist. Ein Teil, der nicht nur störend und nervig ist, sondern ein Teil, der auch beschützen will. Es hört sich für einen Betroffenen immer wieder widersinnig an, aber es ist tatsächlich so. Deshalb ist der Kampf gegen den Zwang sinnlos, denn niemand kann gegen sich selber kämpfen und gegen sich siegen schon gar nicht. Denn wenn es einen Sieger gibt, muss es auch einen Verlierer geben. Aus diesem Grunde bin ich im Dialog mit dem Zwang – im Dialog mit mir. Je mehr ich diesen Dialog vertiefe, desto mehr verstehe ich. Allerdings auf eine Weise, die schwer – sehr schwer - mit Worten auszudrücken ist. Ich komme aber meiner Grundfrage, die man sich eigentlich nicht stellen sollte, nach dem Warum, Schritt für Schritt näher. Doch ohne eineTherapie, mit jemanden an seiner Seite, der einem bei schweren Fragen hilft und dem festen Willen sich all dem zu stellen geht es nicht. Dieser Wille setzt allerdings auch voraus, dass man bereit ist auch in die tiefsten Tiefen seiner Seele zu schauen. Manchmal möchte man es nicht, doch es hilft zu verstehen. Ich habe gelernt – lernen müssen, dass der Zwang für immer ein Teil von mir sein wird, und das ich mit ihm leben muss. Wenn ich ihn nicht für immer verbannen kann, so möchte ich verstehen, warum er sich mich – oder besser - ich ihn mir ausgesucht habe. Was will er von mir und was gibt er mir ?

Diese Fragen kann ein Kampf nicht beantworten. Ein Kampf kann nur vernichten und bezwingen. Bei einem Dialog, gehen beiden Seiten auf sich zu und stellen sich den Fragen des Anderen. Nur ein Dialog führt zum gegenseitigen verstehen und wenn man versteht, so braucht man auch keine Ängste mehr zu fürchten. Ist die Angst weg, so hat die andere Seite von dir, die wir Zwang nennen, keine „Macht“ mehr über dich.  

Oktober, 2015